Gustav Hacker und Johannes Henslinus

Vortrag von Dr. Thomas Lippert am 04.09.2011 anlässlich der Gedenktafel Einweihung von Johannes von Saaz in der Gustav-Hacker-Siedlung in Groß-Umstadt.

Auf den ersten Blick scheint der Namenspatron dieser Siedlung, Gustav Hacker, ein Politiker des mittleren 20. Jahrhunderts, wenig Gemeinsamkeit zu besitzen mit Johannes Henslin, dem Gelehrten und Poeten des späten Mittelalters. Genauere Betrachtung jedoch eröffnet eine Reihe von Parallelen und Übereinstimmungen.

Zunächst der geographische Aspekt: Gustav Hacker wurde am 20. September 1900 in Lubau bei Podersam geboren, also kaum 20 Kilometer südwestlich von Saaz, der langjährigen Wirkungsstätte des Johannes.
Beide waren Bauernsöhne, die durch immensen Fleiß und überdurchschnittliche Begabung in die Elite der Gesellschaft ihrer Zeit aufstiegen, ihre einfache Herkunft aber in ihrem Wirken nie verleugneten. Beide bemühten sich um die Bildung der Jugend ihrer Zeit: Johannes leitete um 1400 über viele Jahre die Lateinschule in Saaz, Gustav Hacker gründete in den frühen Dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere Landwirtschaftsfachschulen in Westböhmen.

Beide lebten in einer unruhigen Zeit des geistigen und gesellschaftlichen Wandels. Die Lebenszeit des Johannes deckt sich weitgehend mit der seines Namensvetters, des tschechischen Reformators Jan Hus. Wie dieser starb er um 1415, vier Jahre vor Ausbruch der Hussitenkriege.

Gustav Hacker wurde in eine Zeit zunehmender ethnischer Konflikte in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie hineingeboren. Gerade in der Zeit, als er die Reifeprüfung – in Österreich bekanntlich Matura genannt – ablegte, erlebte er am Ende des I. Weltkrieges ihre Auflösung und die Gründung der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) auf dem Boden des bisherigen Königreiches Böhmen und Oberun-garns. Nachdem friedliche Proteste gegen die Angliederung ihrer Siedlungsgebiete an diesen neuen Staat anstelle des Verbleibs bei Österreich am 4. März 1919 von tschechischem Militär blutig niedergeschlagen worden waren, beschlossen viele deutschsprachige Bewohner Böhmens und Mährens – später als Sudetendeutsche bezeichnet – zu versuchen, durch aktive Beteiligung an der Politik der Republik die Interessen ihrer ethnische Minderheit zu wahren.

Eine dieser ‚aktivistischen‘ Parteien war der Bund deutscher Landwirte (BdL), die politische Interessenvertretung der deutschsprachigen Bauern in der ČSR, die Hackers politische Heimat wurde. Von 1928 an leitete er die Jugendorganisation dieser Partei, die Deutsche Landjugend in der Tschechoslowakei. Als er 1936 zum Obmann (=Vorsitzenden) des BdL aufstieg, hatte sich die politische Situation erheblich verschlechtert: Viele Sudetendeutsche verloren die Hoffnung, in der ČSR als gleichberechtigte Bürger neben den Tschechen anerkannt zu werden. Zudem schürte das NS-Regime im benachbarten Deutschen Reich den Widerstand gegen die tschechische Staatsführung unter Edvard Beneš. Die von Konrad Henlein geführte Sudentendeutsche Partei (SdP) geriet in zunehmende Abhängigkeit von Hitlers NSDAP. Der äußere Druck erzwang 1938 die Angliederung der bisherigen aktivistischen Parteien der Deutschen in der ČSR, dar-nter auch des BdL, an die SdP.

Die Abtrennung der von Sudetendeutschen bewohnten Siedlungsgebiete von der ČSR und ihre Angliederung an das Deutsche Reich wurden dann am 21. September 1938 von den europäischen Westmächten Großbritannien und Frankreich in einem Telegrammwechsel mit der Regierung der ČSR vereinbart, bevor am 28. September in der Münchener Konferenz die Modalitäten dieses Anschlusses von ihnen, Italien und Deutschland beschlossen wurden. Während der Herrschaft des NS-Regimes über die Sudetengebiete, ab März 1939 auch über das Protektorat Böhmen und Mähren konnte sich Gustav Hacker nicht politisch betätigen. Dennoch wurde er nach der Kapitulation 1945 als Mitschuldiger an der Zerschlagung der ČSR verurteilt und blieb bis 1949 in Haft, um anschließend, wie zwischenzeitlich etwa drei Millionen an-dere Sudetendeutsche, aus der ČSR vertrieben zu werden.

In dem 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht neu gegründeten Land Hessen betätigte sich Hacker nach seiner Ankunft sehr bald in verschiedenen Ämtern an Programmen zur Linderung der Not enteigneter Heimatvertriebener und deren Ein-gliederung in die Gesellschaft. Mit Gleichgesinnten gründete er die Gesamtdeutsche Partei/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GDP/BHE), deren Vorsitz er später kurzzeitig übernahm. Diese Partei war in Hessen über mehrere Legislaturperioden Koalitionspartner der SPD. Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) ernannte Gustav Hacker 1955 zum Minister für Landwirtschaft und Forsten, und Hacker blieb zwölf Jahre lang in diesem Amt.

Die Idee zur Gründung einer großen Siedlung, aus Baugrundstücken von jeweils etwa tausend Quadratmetern Grundfläche, für nebenerwerblich tätige Landwirte, für seit 1945 enteignete und vertriebene Bauern, entstand Mitte der fünfziger Jahre. Gustav Hacker als Hauptinitiator führte die Verhandlungen mit der Stadt Groß-Umstadt und konnte erhebliche Landesmittel zur Unterstützung des Projektes bereitstellen; Groß-Umstadt und die – damals noch selbständige – Gemeinde Richen stellten die größtenteils gemeindeeigene Fläche für 155 Grundstücke zur Verfügung. Anlässlich der offiziellen Grundsteinlegung am 22. Juni 1957 erhielt die Siedlung den Namen Gustav Hackers.

Die Namensgebung nach dem noch (bis 1979) lebenden Minister, von der Groß-Umstädter Stadtverordnetenversammlung am 9. Juli 1956 beschlossen, wurde zunächst von einigen Seiten kritisiert. Gustav Hacker selbst war sich der Problematik wohl bewusst, die darin bestand, dass die Stadt vom Namens-patron natürlich die Vermittlung besonderer finanzieller Zuwendungen des Landes Hessen erwartete, die Hacker nicht in allen Fällen ermöglichen konnte. Langfristig aber erwies sich die Namensgebung sicherlich als richtig, denn sie bewahrt die Erinnerung an einen äußerst engagierten Sachwalter besitz- und heimatlos gewordener Landwirte auch für kommende Generationen.

Groß-Umstadt, den 04. September 2011
Dr. Thomas Lippert

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