Gegen das Vergessen – Dr. Gerhard Illing

Ein Jahr in verschiedenen Lagern in der CSSR interniert, ein Jahr Zwangsarbeit, im Mai 1946 zusammen mit hunderten Saazer Landsleuten in Viehwaggons von Saaz (Zatec) nach Schweinfurt transportiert und aus der Heimat vertrieben.

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Ich wurde am 05. Juli 1928 in Puschwitz bei Podersam geboren. Mein Vater entstammt einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Puschwitz. Er war von 1914 bis 1921, insgesamt sieben Jahre, in russischer Gefangenschaft. Sein älterer Bruder war im Krieg gefallen und sein jüngerer Bruder hatte den Bauernhof übernommen. Er studierte und wurde Fachlehrer, seine erste Anstellung war in der Mädchen-Bürgerschule in Podersam. Meine Mutter entstammte einer angesehenen Saazer Familie, sie war auch Lehrerin. Ihr Vater, also mein Großvater Anton Trenker, war Stadtdirektor in Saaz. Ein Großonkel von mir, Herr Ernst Trenker, war Direktor der Urstoffbrauerei in Saaz. Mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder wohnte ich bis 1936 in Puschwitz und ein Jahr in Podersam. In 1936 übersiedelten wir nach Saaz. Hier besuchte ich die 5-Klassen-Volksschule und ab 01. September 1939 die Oberschule für Jungen. Saaz gehörte bis 1919 zu Österreich, danach wurde Böhmen und Mähren und damit auch Saaz in den neu gegründeten Staat der tschechoslowakischen Republik einverleibt. 1938 wurde das Sudentenland und damit Saaz in das deutsche Reich eingegliedert nach dem Münchner Abkommen. Die Befreiung von der Unterdrückung der Tschechen dauerte nicht lange, denn bereits im September 1939 begann der 2. Weltkrieg mit all seinen schrecklichen Folgen. Bis zum Jahresende 1943 ging ich in Saaz zur Schule.

Am 09. Januar 1944 wurden ich und meine sieben Mitschüler des Jahrganges 1928 zur Luftabwehr nach Brüx einberufen. Als Luftwaffenhelfer war ich bis zum 31. Jänner (Januar) 1945 bei zehn von zwölf Angriffen feindlicher Bomber als Seitenrichtkanonier bei der 12,5 cm FLAK (Flugabwehrkanonen) zur Verteidigung des Hydrierwerkes in Brüx, in dem große Mengen an Kraftstoffen für die Flugzeuge, Panzer und sonstige Fahrzeuge hergestellt wurden. Ab Juli 1944 fanden weitere elf schwere Luftangriffe mit verheerenden Bombardierungen statt. Am 31. Jänner 1945 war das Werk zerstört, die Kanonen größtenteils abgebaut und zum Endkampf an die Ostfront abtransportiert. Ich bekam nach kurzem Aufenthalt in Saaz bei meiner Familie die Einberufung zum RAD (Reichsarbeitsdienst) in Wehrmachtseinsatz. Ab März 1945 sollte ich mit meinen Alterskameraden den weiteren Vormarsch der amerikanischen Streitkräfte aufhalten. Am Samstag, den 05. Mai waren unsere drei Züge des RAD von den „amerikanischen Truppen“ bis östlich von Plan, südlich von Karlsbad, zurück gedrängt worden. Der Krieg war verloren und wir gingen heim, es waren noch etwa 60 km Fußmarsch bis nach Saaz.

Am 06. Mai 1945 kam ich nach Hause und traf meine Eltern und meinen Bruder, die alle unversehrt den Krieg überstanden hatten. Auch das Haus und die Wohnung waren unbeschädigt. Wir hatten großes Glück gehabt. Am Mittwoch, den 09. Mai kamen die russischen Truppen zu uns. Wir hatten zunächst dank der guten russischen Sprachkenntnisse meines Vaters keine Probleme mit der russischen Besatzung. Etwa eine Woche später wurde aber mein Vater mit einem Pkw abgeholt zu einer Besprechung in das Saazer Rathaus. Von dieser Besprechung kam mein Vater nie zurück.

Am 03. Juni, das war ein Sonntag, mussten alle männlichen deutschen Einwohner von 12 bis 65 Jahren zu einer Versammlung auf den Marktplatz kommen. Da ich einen Abtransport nach Russland befürchtete, verkleidete ich mich als Frau. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht einmal 17 Jahre alt. Mein Bruder war gerade 14 Jahre alt und ging mit zu dieser angeblichen Besprechung und kam auch nicht wieder zurück. Ich war dann mit meiner Mutter alleine im Haus. Dann kam der Aufruf, dass Frauen und Kinder in das Lager (SS-Kaserne) gehen müssen, mit etwas Gepäck, Hausschlüssel und etwas Verpflegung. Ich verblieb im Haus und dank meiner russischen Kenntnisse schrieb ich mir eine ärztliche Bescheinigung, dass ich eine hochansteckende Darmerkrankung (Typhus) hätte. Diese Bescheinigung mit einem nachgemachten Stempel der russischen Armee, schrieb ich an die Haustüre und an verschiedene Fenster. Tatsächlich blieb ich von Besuchen, von Plünderern oder Soldaten unbehelligt. Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie viele Tage es waren, sollten die alten Herren über 65 Jahre in das Lager kommen. Meine Mutter erzählte dem Lagerkommandant, sie war damals in Saaz im Schützenhaus, dass ihr kranker Sohn von ihr noch zu Hause wäre. Der Kommandant, ich glaube es war Marek, erlitt einen Tobsuchtsanfall und schrie: „Da ist noch ein deutsches Schwein in der Wohnung“ und gab ihr einen Handwagen mit dem Befehl, mich entweder tot oder lebendig in das Lager zu bringen, ansonsten lässt er alle Personen mit dem Namen Illing erschießen.

Meine Mutter traf mich an und bat mich flehentlich, in das Lager zu kommen. Trotz schwerster Bedenken ging ich mit, dass heißt, das letzte Stück ließ ich mich in das Lager fahren. In der Krankenstube wurde ich zunächst versteckt. Das ging eine zeitlang gut, dann wurde ich gesund geschrieben und zu einem Transport mit einer größerer Anzahl jüngerer Lagerinsassen zugeteilt. Am Bahnhof wurden wir in Viehwaggons verladen. Der Zug fuhr in Richtung Prag. Vor Prag bei Klatno hielt der Zug an. Es wurden etwa hundert Freiwillige für den Kohlebergbau gesucht. Ich habe mich gemeldet aus Furcht, nicht noch weiter gegen Osten abtransportiert zu werden. Hier traf ich einige Schulkameraden. Wir kamen nach Libuschin und wohnten bzw. hausten dann dort in einem Gasthaus. Es begann ein schmerzhafter Leidensweg. Täglich mussten wir von früh morgens zu Fuß zum Schacht „Dul Max“ marschieren und 560 m untertags 12 Stunden arbeiten. Nach einigen Wochen schwerster Arbeit unternahm ich mit meinem Schulfreund Hans Jäckl einen Fluchtversuch. Wir sind nachts in Richtung Saaz marschiert und wurden bei Schlan erwischt, schwer verprügelt, eingesperrt und zu einer harten Strafarbeit versetzt, wobei wir nur jeden zweiten Tag etwas zu essen bekamen. Schließlich hatte ich den Glauben verloren, hier überleben zu können und wollte bei dem Marsch früh zur Arbeit aus der Reihe springen und mich erschießen lassen.

Ich zögerte, konnte mich aber bei Erreichen des Schachtgeländes hinter einem Kohlenwaggon verstecken und fliehen. Eine Woche war ich unterwegs in Richtung Pilsen. Ich wurde allerdings wieder erwischt und angeschossen in ein Gefängnis nach Rakonitz gebracht und dort schwer misshandelt und mit Erschießung bedroht.

Um die Flucht zu verheimlichen, hatte ich mich als Wehrmachtsangehöriger ausgegeben. Bei der Flucht im Wald hatte ich Uniformstücke von der ehemaligen Wlassow-Armee (Russen, die mit den Deutschen gegen die Kommunisten kämpften) angezogen, weil meine Kleidung total zerschlissen war. Ich bin meistens nachts gewandert und habe mich an dem Polarstern (ist genau im Norden) orientiert, um über Pilsen nach Bayern zu kommen. Unterwegs habe ich Rüben, Rübenblätter, Mohn und Äpfel gegessen. Bei Kruschowitz im Wald ging ich auf ein Haus zu, es war ein Försterhaus, dort leuchteten saftige Äpfel und ich hatte riesigen Hunger. Als ich mich dem Grundstück näherte, kam der Förster und rief „Stoj!“. Ich drehte um und wollte davon laufen, da schoss er mit dem Jagdgewehr auf meine Beine. Ich lag angeschossen vor ihm und er holte die uniformierte Polizei, die mich in das Gefängnis Rakonitz transportierten.

Dort musste ich tagelange, schwere Folterungen ertragen. Sie vermuteten, ich wäre ein Wehrwolf. Aber das war ich nicht, ich hatte auch keine Kenntnisse. Sie wollten wissen, wo das Lager ist, wie viel Personen noch in dieser Organisation tätig sind, welche Anschläge geplant sind usw.. Sie haben mein linkes angeschossenes Bein mit Toilettenpapier umwickelt. Diesen Verband an meinem linken Bein zündete man bei einem Verhör an, um mich zum Sprechen zu bringen. Ich wurde auch öfters nachts mit heißem und kaltem Wasser überschüttet und dann wieder gefragt, wo und wer ich war. Ich habe den Namen meines Cousins Walter Funek in Pilsen angegeben, wusste allerdings nicht die Straße, in der er wohnte. Ich wollte ja verhindern, dass sie herausbekommen, dass ich schon zum zweiten Mal geflohen bin, weil ich vermutete, sie würden mich dann sofort erschießen. Auch im Gefängnis hielten sie mir die Pistole wiederholt an den Kopf und drohten, mich zu erschießen, wenn ich nicht die Wahrheit sagen würde. Weitere Methoden waren, um mehr aus mir herauszubringen, dass ich oftmals längere Zeit nichts zu essen und zu trinken bekam und dann wieder relativ gutes Essen und auch einen ausgezeichneten Kaffee. Bei dieser Gelegenheit hat mich ein freundlicher älterer Herr, der sehr gut deutsch sprach, doch überredet, die Wahrheit zu sagen. Ich gab also an, in Libuschin ausgerissen zu sein, nachdem er mir zugesichert hatte, man würde mich nicht erschießen und gut behandeln. Ich wurde dann nach Libuschin zurückgebracht und in den Schweinestall eingesperrt. Man wollte mich tatsächlich sofort erschießen. Meine Schulkollegen Josef Kurz und Hans Jäckl, die ebenfalls noch in Libuschin im Lager waren, die sollten zuschauen wie ich erschossen werde, sie haben sich aber geweigert und sind nicht in den Hof gekommen, zu dem Schweinestall, wo ich lag und sie mich erschießen wollten. Ich bettelte um mein Leben und auf die Frage warum ich ausgerissen bin, antwortete ich „Ich will ja nur zu meiner Mutter“.

Dann brachten sie mich nach Klatno-Dubi, einem berüchtigten Straflager. Man legte mich in eine Krankenstation. Auf dem blanken Fußboden lagen etwa 15 – 20 Männer, die entweder krank oder verletzt waren. Man gab uns nur jeden zweiten Tag eine Wassersuppe. Ich konnte aber etwa 23 Stunden am Tag schlafen und überlebte so einige Wochen. Jeden Tag hat man Nachbarhäftlinge, die an der so genannten Wassersucht oder an Tuberkulose gestorben waren, heraus getragen, es war wohl die Absicht, uns nach und nach auf diese Art und Weise zu töten.

Am 28. Oktober 1945, dem Jahrestag der Gründung der ersten tschechoslowakischen Republik, wurden etwa 36 Häftlinge, darunter auch ich, amnestiert. Es kam eine britisch-amerikanische Kommission. Es hatte sich offensichtlich herumgesprochen, welche Unmenschlichkeiten in dem Lager Klatno-Dubi geschahen. Ich wurde nach Saaz entlassen.

Ich wusste natürlich, dass in Saaz niemand ist, bat aber mit meinen Englischkenntnissen die amerikanischen oder britischen Soldaten, sie möchten mich bitte zum Bahnhof fahren, da ich nicht laufen konnte, das haben sie auch getan. Ich bin dort in den Zug eingestiegen und habe mich in der Toilette versteckt und aufgepasst und vor Saaz, in Trnowan, bin ich ausgestiegen und auf allen „Vieren“ nach Saaz gekrochen, das sind 3 – 4 km gewesen.

Ich versuchte hier, zur Familie Kraus zu kommen. Kraus Heinz war mein Schulfreund. Sein Vater war Tscheche und Kommunist, sie durften in der Wohnung bleiben, das habe ich noch vor dem Abtransport von Saaz nach Libuschin erfahren. Ich kam dann tatsächlich noch in der Nacht bei Familie Kraus an, sie wohnten in der alten Bürgerbrauerei. Die Mutter von Heinz Kraus, eine geborene Reichert, war eine Schulfreundin zu meiner Mutter, die nahm mich auf und sagte: „Oh Gott Bub, wie siehst Du aus!“ Sie hat mich in die Badewanne gesteckt und dann konnte ich erst einmal nach Monaten in einem Bett richtig ausschlafen. Sie hat mich eingekleidet. Heinz und sein Vater versuchten herauszubekommen, wo meine Mutter und mein Bruder waren. Sie erfuhren, dass sie in einem Internierungslager in Tscheraditz bei Saaz sich befanden und dort in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Mit dem Handwagen fuhren sie mich dann nach Tscheraditz in das Lager.

Zu meiner größten Freude traf ich meine Mutter und meinen jüngeren Bruder dort an. Das war der 01. oder 02. November 1945. Wir mussten dann noch einige Monate in der Landwirtschaft arbeiten. Die Lagerinsassen, meistens Frauen und Kinder, wurden den Bauern zugeteilt. Meine Mutter, mein Bruder und ich bekamen auch ein Stübchen auf einem Bauernhof zugeteilt, der von zwei Swobodisten (Freiheitskämpfer) es waren Wolynien-Tschechen (Wolynien gehörte zu Rumänien, heute Ukraine), sie hießen Zigan und Januschek. Ich wurde der Ochsenknecht, meine Mutter die Kuhmagd. Unsere Arbeit bestand am Anfang darin, die Kuhställe auszumisten. Die Kühe standen schon seit einem halben bis dreiviertel Jahr auf einem Mistpolster, es wurde ja monatelang nicht ausgemistet. Der frühere Besitzer und Bauer mit seiner Frau, es waren schon ältere Leute, mussten ebenfalls als Knecht und Magd am Hof arbeiten. Wir hatten allerdings jetzt die Möglichkeit, durch Milch und Butter unsere Ernährung wesentlich aufzubessern. Es war uns auch erlaubt, das Haus zu verlassen. Ich bin z. B. mit dem Ochsengespann nach Saaz in die Zuckerrübenfabrik gefahren, beladen mit Zuckerrüben. Wir sind auch einmal heimlich zu Neujahr nach Puschwitz gegangen und was wir dort vorfanden war sehr traurig. Unser Haus in der Herrengasse 96 stand leer. Auch eine ganze Reihe Bauerngehöfte und Häuser waren ohne Bewohner. Wir haben nur erfahren, dass der Bruder meines Vaters, Eduard Illing, mit seiner Frau und den zwei Kindern, Herta und Kuno, tot waren. Sie wurden am 09. Mai 1945 ermordet und auf dem Friedhof Puschwitz verscharrt. Wir haben dann den Friedhof besucht und sind wieder nach Tscheraditz zurückgegangen.

Etwa im Februar/März 1946 wurden wir nach Saaz gebracht, zuerst in die geräumten Wohnungen in der Reitschoweserstraße, das war die früher so genannte „Rote Burg“. Es hieß, wir werden ausgesiedelt. Dann wurden etwa 1000 – 1500 Personen aus diesem Internierungslager abgeholt und wie wir später erfuhren und auch selbst erlebten, in die Wussinallee, in die ehemalige Volksschule gebracht. Am Sonntag, 12. Mai 1946 mussten wir zum Bahnhof marschieren. Hier wurden wir in Viehwaggons verladen und eingeschlossen, 30 Personen pro Waggon, ohne Verpflegung, ohne etwas zu trinken setzte sich der Zug kurz vor Mitternacht in Richtung Westen in Bewegung. Es ging über Karlsbad, Eger, nach Bayern. In Wiesau wurden wir von amerikanischen Soldaten empfangen, mit DDT-Pulver entlaust, erstmals verpflegt und tags darauf ging der Transport weiter nach Schweinfurt. Dort trafen wir am 14. Mai 1946 am zerstörten aber vom Schutt geräumten Hauptbahnhof ein. Man brachte uns zunächst notdürftig in einem Luftschutzbunker in der Gartenstadt unter. Nach und nach wurden alle Heimatvertriebenen aus dem zerbombten Schweinfurt in die umliegenden Ortschaften aufgeteilt.

Mit einigen anderen Insassen des Luftschutzbunkers wurden wir am Freitag, den 17. Mai 1946 in die Gemeinde Grettstadt bei Schweinfurt einquartiert. Wir bekamen eine Abstellkammer mit zwei Betten für drei Personen beim Bauern Kutzenberger zugewiesen. Das war unsere erste Wohnung in Mainfranken in der US-amerikanisch besetzten Zone.

Dr. Gerhard Illing

Gross-Umstadt, 6.Juni 2008

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