Vortrag von Gerold Schmiedbach am 04.09.2011 in Groß-Umstadt
Der Ackermann und der Tod
Während der Regierungszeit von Karl IV, es war die Blütezeit Böhmens, ist der „Ackermann von Böhmen“ entstanden. Das Stück handelt „Von der Klage des Men-schen wider den Tod und Gottes Urteil“. Der Tod Margarethas, der Frau des Acker-manns, war Anlass für eine besonders würdige Ausstattung des Textes als eine Art Totenklage.
In seiner Dichtung nennt sich Johannes Henslin, der Dichter, im Schlusskapitel „Jo-hannes“. Er wurde um 1359 in Westböhmen geboren. Verschiedentlich nennt er sich „von Schüttwa“ oder „von Tepl“. Wahrscheinlich erreichte er an der Prager Karls-Universität die Magisterwürde. Von 1383 an war er Stadtschreiber von Saaz an der Eger und führte den Titel eines öffentlichen Notars der Diözese Prag. Saaz/Žatec wurde 1250 als königliche Stadt gegründet.
Um 1400 schrieb Johannes von Saaz das bedeutendste Werk des Frühhumanismus in deutscher Sprache, das in Böhmen entstand und dem Lebensgefühl der Renais-sance entsprang – eben seinen großartigen Dialog „Der Ackermann aus Böhmen“.
Man bezeichnet diese Zeit als Frührenaissance – Zeit der Wiedergeburt. Aus der scharfen Auseinandersetzung der menschlichen sapiencia mit der Welt sollte ein neuer Mensch geboren werden. Vorbilder für diese Auseinandersetzung fand man bei den großen alten Meistern der Logik und Dialektik: bei Aristoteles und seinen Schülern. Die Kunst des Dialogs lernte man von Platon und Seneca. Ungeheuere innere Spannungen erschütterten die Zeit: Freude am Leben, aber auch Ängste vor der Laune und Wandelbarkeit des Glückes. Wo liegt die rechte Mitte zwischen äuße-rem Reichtum und christlicher Askese, zwischen irdischem Glück und Besitz des höchsten Gutes, zwischen Sinn des Lebens und Wesen des Todes? Um diese Frage rangen die größten Geister.
In dieser Zeit mit ihren ungeheuren Erschütterungen starb dem Stadtschreiber Jo-hannes von Saaz seine, wie es heißt, viel geliebte Frau Margaretha, die rührend be-sorgte Mutter seiner Kinder, seine Ehefrau, die ihm in einer Welt, in der alles zu wan-ken schien, ein fester Halt war. Nun war die Zeit für den Ackermann gekommen, al-les, was seinen Geist aufwühlte, niederzuschreiben. Er verarbeitete nicht nur die ganze Weisheit seiner Zeit, mit der er sich auseinandergesetzt hatte, sondern, er brachte seine Persönlichkeit, seinen Schmerz mit ein.
So entwickelte er eine Szene in drei Stufen:
1. Das Gericht.
2. Der Streit um die Wahrheit in philosophischer Disputation = Streitgespräch.
3. Das Gebet.
Und so konnte er beginnen. Vom Tod seiner Frau zutiefst getroffen, fordert der Ackermann leidenschaftlich Gottes schwerste Acht über den Tod. Das ist das Ge-richt. Der Tod, erschienen in der Würde eines gekrönten Fürsten, fragt Ackermann nach Name und Grund der Klage. Aber der Ackermann wiederholt im Übermaß sei-nes Gefühls dreimal den schwersten Fluch: Sein Verlust sei unersetzlich. Der Tod entgegnet ihm mit der Weisheit der Stoiker: Alle Liebe müsse in Leid enden, der Tod sei eine Notwendigkeit des Lebens.
Da tritt die Wendung ein. Der Ackermann fragt den Tod, wer er sei, was er sei, wo er hause. Nun beginnt die Disputation. Der Ackermann lässt die Hände sinken, der Tod legt Krone und Zepter ab. Beide lassen das Persönliche weg und sprechen über das Wesen der Welt und den Sinn der Menschheit. Was ist Gerechtigkeit? Rede und Widerrede folgen wie Hammerschläge: Vergänglichkeit der Schönheit, Überwindung der Triebe, Recht und Freude und schönes Leben, aber auch Hinfälligkeit und Unflä-tigkeit der Menschennatur.
Und nun kommt die zweite Wende: Der Ackermann bittet den Tod um Rat, wie er sein Leid überwinden könne. Der Streit geht weiter. Der Kläger schildert das Meis-terwerk Gottes, den menschlichen Körper mit Worten, wie sie nur ein Dichter des Humanismus finden konnte. Aber der Tod antwortet mit Verachtung aller menschli-chen Künste. Es folgt der Streit über Freuden und Leid des Ehestandes, um die Vor-züge und Gebrechen weltlicher und geistlicher Stände, um Frauenzucht und Begier-de des Fleisches, bis die Streitenden wieder vor der Frage stehen: Was ist der Tod?
Da holen beide zu letzten Schlägen aus: Der Ackermann wirft die platonische An-schauung von der ewigen Verwandlung der Schöpfung ein, im Vertrauen auf Gottes Ordnung und Gerechtigkeit fordert er den Tod endgültig vor Gottes Gericht. Die Ant-wort des Todes ist eine vernichtende Kritik der nur auf das Diesseits gerichteten Kul-tur, die der Menschheit doch nur Ängste, Trübsal und Leid bringe, und gibt dem Klä-ger den Rat, sich vom Bösen zu kehren, Frieden zu üben und über alles ein reines Gewissen zu stellen. Und: Er ist bereit, mit dem Kläger, dem Ackermann, vor Gericht zu treten. Gott spricht das Urteil. Kläger und Tod verweist er in ihre Schranken, aber er lobt: Der Streit sei mit allen Waffen geführt worden, denn dieser Streit offenbare die Wahrheit.
Der Streit ist zu Ende. Der Tod als Sieger über das Irdische des Menschentums tritt von der Bühne ab. Der Mensch steht vor Gott. Er stimmt einen Hymnus auf die Macht und Größe Gottes an. Die Worte schwellen an, dann folgt das ergreifende Ge-bet um die Seelenruhe der verstorbenen Frau, und das Spiel verklingt mit einem in-nigen Amen.
Der Aufbau der Szene des Werkes ist dreistufig. Johannes von Saaz steigert inner-halb der Sätze die Satzteile dreigliedrig. „Drei“ ist die Kompositionszahl des Wortes, bestimmt vom Geist der Dialektik.
Was bedeutet die Dichtung heute? Sie ist so von Blut und Leben erfüllt, dass sie uns auch ohne Erklärung und Deutung ergreift. Die in der Dichtung gezeichneten Bilder gleichen in Tiefe und Klarheit den Holzschnitten Dürers. Mit „Ritter, Tod und Teufel“ haben sie geistig viel gemeinsam: Der Ackermann kämpft wie ein Ritter um den Sinn seines Menschentums, im „Tod“ aber fließen das Gerippe der Vergänglichkeit und der Teufel der ewigen Verneinung zusammen.
Der Ackermann weiß: Alles, was er am Menschentum schätzt, ist ständig gefährdet durch Tod und Teufel. Dem Menschen ist es stets leidvoll, seine Grenzen zu erfah-ren. Überzeugend weist der Tod nach, dass der Tod mit Wirken und Zusammenhang der Natur verbunden ist. Jedes Wesen müsse einmal zum Nichtwesen werden. Alles irdische Glück, alles Liebe müsse am Ende zum Leid ausschlagen. Der Tod ist ein Geschehen, in der Natur und in Gottes Hand. Damit verliert er seinen Schrecken. Der Mensch hat die Freiheit, den Tod als ein Geschehen höherer Weisheit zu erkennen.
„Wenn es zu spät ist, wollen alle fromm werden“ – ein furchtbares Wort, das der Tod in seinem Schlusskapitel spricht. Es ist die andere Seite des Geschehens, es ist die höhere Weisheit. Erst als der Ackermann bereit ist, eine göttliche Ordnung im Welt-geschehen anzuerkennen, gibt ihm der Tod den Rat, – den dreifachen Rat – , der ihm helfen soll , sein persönliches Leid zu überwinden, und die Menschheit gegen die Geißel des Todes innerlich festzumachen:
1. Kehre dich vom Bösen und übe das Gute!
2. Suche den Frieden und übe ihn stets!
3. Über alle irdischen Dinge habe ich ein reines und lauteres Gewissen!
Das ist es, was das Mittelalter und auch der Humanismus unter „fromm“ verstanden: Nicht einseitige Andachtsübungen, sondern Bewährung des ganzen Menschen in der göttlichen Ordnung. Wer die drei Ratschläge beachtet, der kann getrost vor Gott hin-treten und sein Urteil erwarten; er hat gut gekämpft.
So spricht die Dichtung unmittelbar zu uns. In diesem Sinne können wir ohne Gefahr der Übertreibung sagen: Johannes von Saaz hat eine Botschaft auch an die heutige Menschheit, seine Botschaft ist zeitlos und drängt uns zum Nachdenken.
In der „Ackermann-Gemeinde“ haben sich 1946 nach Flucht und Vertreibung deut-sche Katholiken aus der Tschechoslowakei zusammengefunden. Für sie ist der christliche Humanismus nicht ein Markenschild, sondern eine todernste Aufforderung an alle. Sie hatten versucht, wie der Ackermann, ihr Leid aus dem schweren Schick-sal von Grausamkeit, Fanatismus mit oft unermesslichem Leid, das die Vertreibung ihnen aufgebürdet hatte, zu überwinden. Schon bald galten der neu entstandenen Gemeinschaft Bemühungen um Versöhnung mit dem tschechischen Volk als beson-ders wichtig. Heute pflegen wir viele Beziehungen und eine Reihe von Partnerschaf-ten mit Tschechen. Die Ackermann-Gemeinde der Diözese Mainz hat viele Verbin-dungen, arbeitet vor allem eng mit dem Bischöflichen Gymnasium in Ostrau zusam-men – sehr zum Vorteil und zur Freude beider Seiten. Wir besuchen uns gegenseitig. Jedes Jahr kommen Schüler und zwei Lehrer zu unserer Jahrestagung nach Hep-penheim, auf der beide Seiten interessierende Themen besprochen werden. Die christlich-humanistische Basis hier wie dort erleichtert alle Bemühungen. Unter christ-lich verstehen wir die Gemeinsamkeit von Katholiken und Evangelischen. Auch nicht in den Böhmischen Ländern Verwurzelte sind willkommen.
Das Denkmal für Johannes Henslin, das wir heute einweihen ist nicht nur eine Erin-nerung an einen Saazer Bürger und an die vertriebenen Deutschen, die hier eine neue Heimat fanden. Seine Dichtung ermahnt uns zur Bewährung der Menschen in einer göttlichen Ordnung. Dabei stehen die vertriebenen Deutschen auch als Para-digma für ein Schicksal, das den Einzelnen wie ganze Gruppen auch heute treffen kann, es gibt Beispiele genügend.
Die Welterklärung von Johannes von Saaz wird insofern gültig bleiben, als sie sich für bestimmte Kulturkreise als vernünftig und lebenserhaltend erweist, sie wird auch unvermerkt unter den Menschen wandeln, solange die Menschen nur Menschen bleiben.